Pfüat di Gott, du alte Zeit |
Operette, Varieté, Kabarett |
Schallplatte, Rundfunk & Schlager |
Konservative Kreise waren über die Verdrängung der „bodenständigen” Wienerlieder durch die neuesten Opererettenschlager verbittert: „Mit schlichten Volksliedern konnte man dem verwöhnten Stadtpublikum nicht kommen”, verkündete das Fremdenblatt am 27. September 1906. Die Ansprüche wurden immer größer, die Eintritte in immer größere Lokale teurer. Die Vorführung der jeweils aktuellsten internationalen Modetänze wie Cakewalk und Tango, später Onestep, Shimmy und Pasodoble wurden nach 1900 häufiger in der Komposition und Inszenierung von Operetten eingeplant. Gegen diese „modernen” Tänze wetterten die „Antishimmyten”, wie es der Kaffeehausliterat Anton Kuh einmal treffsicher formulierte: „der Donauwalzer war ihr Kriegslied” (Der unsterbliche Österreicher, in: Anton Kuh: Luftlinien, 1931).
Wiens erstes Varietétheater war Danzers Orpheum im 9. Bezirk. Der Gastwirt Eduard Danzer hatte das ehemalige Harmonietheater 1872 übernommen und ließ dort hauptsächlich Varietéprogramme spielen, zeigte also neben Volkssängerproduktionen ein internationales Programm mit Tänzern, Musikclowns, Chansonetten, Gymnastikern, Tiernummern und vielerlei anderen Attraktionen und Kuriositäten. Rasch folgten weitere Bühnen wie das Etablissement Ronacher (1888), Gartenbau-Varieté, Apollotheater (1904), das Varieté Leicht im Prater oder das Kolosseum (1898). Apollo und Gartenbau sind uns heute als Kinosäle bekannt, das Ronacher ist eine Musical- und Veranstaltungsbühne, das Kolosseum in der Nussdorferstr. 4 wurde 1925 auch zum Kinosaal umgebaut, aber nur sein damals entstandenes „Buffet Kolosseum” ist mit seiner Originaleinrichtung immer noch als Buffet in Betrieb. Das Kino hatte zuletzt acht Säle und wurde erst 2002 geschlossen, heute befindet sich in den Räumen ein Supermarkt.
1906 gab es in Wien eine Anzahl großer Varietés, fünf Kabaretts und fünf Tanznachtlokale (Marion Linhardt: Residenzstadt und Metropole, Tübingen 2006). Das Apollo und das Kolosseum erhielten 1908 erweiterte Singspielhallenkonzessionen für einaktige Theaterstücke mit Musik, Tanz, Gesang und Dekorationen. Dort entwickelte sich eine umfangreiche Produktion an Operetteneinaktern, die meist im zweiten Teil der gemischten Varietéprogramme gespielt wurden. Allmählich entwickelten sich aus der Kombination von Varieténummern und einaktigen Operetten zunächst kleinere Revuen, die in der Zwischenkriegszeit bereits zu großen, aufwändigen und kostspieligen Ausstattungsrevuen wurden. Sowohl Kabarett als auch Varieté bedienten sich der Operette; während beim Kabarett der literarische Anspruch im Vordergrund stand, betonte das Varieté mehr den Ausstattungsaspekt.
Am Anfang der Wiener Kabarettgeschichte steht die berühmte Budapester Orpheumgesellschaft, die 1889 von Josef Modl und den Brüdern Rott gegründet wurde. Wichtigste Galionsfigur war Heinrich Eisenbach. Dem Ensemble gehörten einige Zeit auch Armin Berg und Hans Moser an. Das ungeheuer erfolgreiche Programm bestand aus einer Mischung von Jargon-Theater, Kabarett, Akrobatik, Wienerliedern sowie Tanz- und Unterhaltungsmusik. Einer der gefragtesten Texter und Komponisten für die Orpheumgesellschaft war Carl Lorens, der insgesamt über 2000 Lieder schrieb.
Das vermutlich erste echte Wiener Kabarett war Felix Saltens Jung-Wiener-Theater zum lieben Augustin, gegründet 1901. Bald darauf entstanden: Nachtlicht, Fledermaus, Simpl und andere. Auch hier spielten Wienerlieder immer wieder eine bedeutende Rolle, wenn auch vorwiegend als Rohmaterial für Kontrafakturen bzw. Parodien oder bereits als Blick auf „Alt-Wiener” Spezialitäten.
Diese massiven Veränderungen in der Musik- und Unterhaltungsbranche hatten Auswirkungen auf das Wienerlied:
Der Dialekt verliert an Bedeutung. Die Lieder werden rhythmusbetonter, verzichten also auf das spezifische Rubato. Der bis dato nahezu selbstverständliche Walzertakt, der sich entweder durchgehend oder mindestens im Refrain zeigte, aber auch der Marsch wichen zunehmend dem Polkarhythmus. Später kamen noch der Einfluss und die Faszination neuer Modetänze hinzu. Die Chromatik wird reduziert, das Tempo gesteigert und gleichmäßig. An diesem Punkt der Entwicklung entsteht für das Wienerlied erstmals die Frage nach der Echtheit. Interpreten bedienen jetzt mehrere Genres gleichzeitig: Volkssänger sind in Kabarett und Varieté zu hören, Operettensänger schmettern Wienerlieder. Die Frage nach authentischer Interpretation bricht auf.